SANTANA
Detlef Krenz

Versione italiana


Dieses Frühjahr, an das ich mich erinnere, wurde verdammt warm, beinahe ein vorgezogener Sommer. Für mich stand eine Entscheidung an: Beatles oder Stones?
Im Jungendlichenleben der damaligen Zeit gehörte es zum guten Ton einer der beiden Fangemeinden anzugehören. Ich hatte leider keine Antwort parat. Mal waren mir die Stones zu böse und um das andere Mal die Beatles zu harmlos. In meinem Kopf sirrten summten Kadenzen, Rhythmen, Pulsationen für die ich weder einen Namen noch einen Begriff kannte. Schliesslich verweigerte ich jede Antwort und wandte mich von der Musik ab. Sie war mir durch den Musikunterricht sowieso verleidet (der hauptsächlich darin bestand, dass jeder einzeln vorsingen musste. Für mich, der ziemlich schüchtern war, eine Tortur). Nur, ich fühlte eine ständige Unruhe. Ich suchte nach einer Möglichkeit die ungezählten Eindrücke des Tages besser verstehen und einordnen zu können.
Zum Geburtstag (der Monate zurücklag) bekam ich einen Photoapparat geschenkt.
Seitdem schlummerte er achtlos in der Ecke. Ich beschloss, mit Hilfe der Kamera meine Welt zu entdecken: Mama, Papa, Oma, Opa. Bald eroberte ich mir die Gärten, Denkmäler und übrigen Sehenswürdigkeiten der unmittelbaren Umgebung und stieß schnell an die Grenzen meines Könnens. Daraufhin schleppte ich Stapel von Bildbänden und Photofachbüchern aus der Stadtbücherei nach Hause. Schnell wurden mir viele Namen geläufig: Margarete Bourke-White, Berenice Abbot, Brassai, Ed van der Elsken, Werner Bischoff usw. usw. Hinter jedem Namen verbargen sich Bilder, die ihre Zeit im flüchtigen Augenblick der Hundertstel, der Tausendstel oder der halben Sekunde schilderten.
So sass ich an einem späten Sonntagnachmittag im April mit meinen Eltern und älteren Geschwistern bei Kaffee und Kuchen auf dem Balkon. Die plauderten über abwesende Onkels und Tanten, was DIE taten oder besser hätten tun sollen. Ich blätterte lieber in einem schmalen Bildband. Im Rahmen einer langen Reise hatte Bruce Davidson etliche Jazzmusiker porträtiert.
JAZZ - Bisher kannte ich diesen Begriff nur aus der Zeitung. Wenn vom Jazz die Rede war, dann fiel meistens ein Name: Chet Baker - die weisse Trompete.
Unerbittlich vom grellen Blitzlicht aus dem Dunkel herausgeschnitten tauchte sein fahles Gesicht immer wieder unter den Schlagzeilen auf. „Die weisse Trompete!!“ weder das Instrument noch die Spielweise oder der Mann, sondern seine Gier nach dem Heroin war damit gemeint. Die Verwirrung des einzelnen galt für alle. Jazz - das war gleichbedeutend mit Unterwelt oder Zwielicht.
Ganz anders die Aufnahmen von Bruce Davidson: Um die Atmosphäre nicht zu zerstören benutzte er kein Blitzlicht. Seine Photos zeigten lachende, glückliche Menschen. Auch er bevorzugte scharfe Schnitte. Jedes Bild konnte als Zeichen aus einem mir unbekannten Alphabet entlehnt sein. Grobes Korn brach gleichmässiges Grau. Verwischte Arme und Hände zeichneten Spuren über die hell schimmernden Schlagzeugbecken. Tiefschwarze Schatten prallten gegen weiße Lichter, Gesichter verschwammen in der Unschärfe oder sie traten klar aus der Unschärfe in den Vordergrund. Sanft spiegelte sich dagegen die Schnecke vom Kontrabaß auf dem matt glänzenden Pianolack.
Betrachtete ich die Bilder mit halbgeschlossenen Augen, dann hörte ich eine Melodie. Sie verstummte, sobald ich die Augen ganz öffnete. Ich vergass den Balkon, die Eltern, die Verwandten, den Kaffee, den Kuchen. Ich schaute zum Himmel, blickte in die Sonne und ohne zu wissen warum, fühlte ich mich gut wie selten zuvor.
Überraschend kühlten sich die Temperaturen im Mai wieder ab. Wochenendes auf dem Balkon zu sitzen wurde ungemütlich. Es regnete fast unaufhörlich. Wir verbrachten die Sonntage im Wohnzimmer. Hier las Papa meistens ein Buch, rauchte Pfeife oder schaltete das Radio an. So auch diesmal. Es knisterte und kratzte im Lautsprecher. Was anschliessend aus dem Lautsprecher drang war weder böse noch harmlos. Ich glaubte einen Schrei gehört zu haben, doch dieser Ton wurde aufgefangen, gleichsam in eine behütete Mitte genommen. Ich dachte zuerst an eine Geschichte von Jack London, wie er als Tramp auf die Güterzüge sprang aber danach an die Beschreibung eines abstrakten Gemäldes von Jackson Pollok.
Verwirrt blickte ich auf das alte Radio, sah die Blumentöpfe nebenbei und meinen Vater, der zur Melodie vergnügt mit dem Fuss wippte. Selten hatte ich ihn vorher so lustig gesehen. Ja, er summte sogar mit, obwohl im Radio niemand sang. Er ahmte den tiefen Bass nach. "Johannes Rediske" sagte er. Ja damals kurz nach dem Krieg - die "Eierschale". Meine Mutter und er, sie hatten sich in der Eierschale kennengelernt, das erfuhr ich jetzt. Beinahe jeden Sonnabend sind sie Tanzen gegangen. Rundherum lag alles in Trümmern. Einzig dieser grosse Hotelkeller war heilgeblieben. Hier spielte Sonnabends immer das "Johannes Rediske Quintett".
Alle kamen in die „Eierschale“, die Russen, die Amis, die Schieber, die Polizisten und keiner kam dem anderen in die Quere. Seine Erinnerungen trugen ihn von der Eierschale zum schwarzen Markt gleich um die Ecke. Ja, sie haben gut gelebt inmitten der Ruinen, der Kälte und dem Wahnsinn, dass Berlin in vier Sektoren geteilt wurde.
Ich achtete mehr auf die Ansagen im Radio. "Yardbird Suite", hieß das eben gehörte. Slam Steward stand am Bass, Charlie Parker bliess das Saxophon, Miles Davis die Trompete, und Dodo Marmarosa saß am Piano. Mit Lucky Thompson (Trombones), Arvin Garrison (Guitar), Roy Porter (Drums) bildeten sie das "CHARLIE PARKER SEPTET". Ich wollte mehr wissen. Die guten Plattenspieler waren um die Mitte der Sechsziger Jahre ziemlich teuer. Deshalb blieb meine Liebe zum Jazz bis zu diesem regnerischen Sonntag im Mai eine platonische. Das veränderte sich nun rasch. Jeden Sonntag gegen 15 Uhr saß ich vor dem Radio. Ich summte bald "A Night in Tunesia" oder "Ornithology", wenn die andren in der Schule "A Hard Days Night" oder "Under the Boardwalk" in der Schule auf die Tische trommelten. Außerhalb des Klassenzimmers passierte interessanteres, niemand fragte mehr nach meinem Musikgeschmack.
Im Zentrum von Westberlin vor dem Amerikahaus war die Flagge der USA heruntergerissen und verbrannt worden. Hunderte Menschen schrien „AMI GO HOME“. Die Mehrheit der Berliner stand diesem Aufruhr ratlos bis zornig gegenüber. Nur drei Jahre vorher bildeten die Leute vom Flughafen Tempelhof bis zum Rathaus Schöneberg ein Kilometerlanges jubelndes Spalier um den Präsidenten Kennedy zu sehen. Ich lernte in der Schule, dass die Russen 18 Jahre vorher eine gefährliche Blockade gegen Westberlin verhängten und die Amis über eine Luftbrücke unablässig Kohlen, Brot und für die Kleinen Schokolade in die Stadt flogen. Elvis Presley, die Jeans, die schönen Autos mit den mächtigen Heckflossen; kurz, alles was gut und aufregend war, kam aus Amerika, das wußte jeder ob im Westen oder im Osten Berlins. Der Osten, das war gleichbedeutend mit dem Kommunismus, die Unfreiheit aus der Sicht der Amerikaner, wie auch dem Gros der Westberliner nach Errichtung der Mauer. Westberlin lag nach dem Bau der Mauer als eine ideologische Insel inmitten der Russisch dh. der Kommunistischen Zone. In vielen Zeitungsartikeln dieser Zeit wurde Westberlin deshalb dank der Stationierung der Amerikaner (dass da noch die Briten und Franzosen ihre Sektoren hatten fiel immer etwas unter den Tisch) als Bollwerk gegen den Kommunismus betitelt. Die BRD auf dem Amerikanisch, Britisch, Französich besetzten Teil Deutschlands war als Staat anerkannt, die DDR dagegen auf dem Russisch besetzten Teil Deutschlands nicht. Deshalb wurde von den meisten Westberlinern jeder, der etwas gegen die Amerikaner sagte, zu den Leuten aus dem „Osten“, der DDR gerechnet. Der Feind, also jener, der all die schönen Dinge die aus Amerika kamen beseitigen wollte, der kam deshalb immer aus dem Osten
oder der „DDR“. Die „DDR“, das war gleichbedeutend mit Armut, mit Hässlichkeit. Schon allein deshalb (die allierten Bomben hatte ja nicht viel altes übriggelassen) wurde der Kern Westberlins im schlanken Stil der Fünfziger aufgebaut. Und genau hier hatten Hunderte „Ami Go Home“ geschrien, eine ungeheure Provokation. Der Aufruhr erreichte unsere Schule und ich legte die Photobücher zur Seite, las Zeitungen. Bald begann auch ich mich zu fragen was diese seltsamen Namen wie Hue, Da Nang, Haiphong mit Amerika zu tun hatten. Was suchten die GI`s, die wir als nette, immer lustige Jungs kannten in Vietnam? In einem unbekannten Land auf der anderen Seite der Erde. Weshalb kämpften sie gegen einen ihnen unheimlichen, und selten faßbaren Gegner? Die Lehrer gaben keine Antwort. GI`s überfielen Krankenhäuser, vergewaltigten, oder schossen den Frauen Leuchtspurmunition in die Bäuche. GI's liessen Bomben auf Dörfer harmloser Bauern regnen, verbrannten Felder und die Menschen. Konnte das gerecht sein?
Vom Geschichtslehrer wusste ich, dass Deutschland 1939 der Welt den Krieg erklärte. Deutsche Truppen hielten fast ganz Europa und das halbe Russland besetzt.
Überall, wo sie standen, übten Deutsche eine Schreckensherrschaft aus. Deutsche Bomber legten London in Schutt und Asche, deshalb war es gerecht, dass später deutsche Städte bombardiert wurden, und die Deutschen den Krieg verloren.
Aber, so überlegte ich, wie konnte Vietnam, selber schwach und durch einen Ozean getrennt, also Tausende von Kilometern entfernt eine Gefahr für die Vereinigten Staaten darstellen?
Allmählich vollzog ich eine Trennung: hier die GI's oder DIE AMERIKANER und dort die Musiker wie Charly Parker oder Miles Davis. Die Musiker, Schriftsteller wie Jack Keroak, Allen Ginsberg, Maler wie Roy Lichtenstein zählte ich auf eine bestimmte Weise nicht mehr zu den Amerikanern. Bald merkte ich, dass die meisten in der Schule ähnlich dachten. Hier die Bösen und dort die Guten. Damit gerieten wir in den Widerspruch zu den Lehrern und vor allem zu unseren Eltern. Unsere Guten waren für sie die Bösen. Auch bei mir zu Hause.
Sonntag - 15 Uhr, der Date mit Papa - aus und vorbei. Der Moderator liebte die späten Zwanziger, vor allem die frühen Dreissiger, besonders Bix Beiderbecke, Mugsy Spanier, blickte auf zu den Grössen, zum „Duke“, oder Woody Hermann, Count Basie, hatte ein Herz für Jack Teagarden, oder Tommy Dorsey, nur auf den Bebop blickte er mit leisem Schauder. Deshalb kam der einmal in der Sendung vor.
Und einmal, mitten in der Woche, nach 23 Uhr gab es die Moderne im Radio. Ich durfte die Moderne nur mit dem Kopfhörer unter der Bettdecke erleben. Charles Mingus, Theolonius Monk, auch John Cage und Erik Satie. Sie alle produzierten für die Ohren meines Vaters unerträgliches, das blanke Chaos. Und für Chaos gab es in seinem Haus keinen Platz.
Ich lokalisierte das Chaos in einem Plattenladen, besser einem Radiofachgeschäft.
Auf dem Weg zur Schule kam ich regelmässig an dem Laden vorbei. Der Besitzer stellte Plattencover die ihm besonders gefielen im Schaufenster aus. Ein Album weckte meine Neugier: Little David’s Fugue. Das Modern Jazz Quartet war mir dem Namen nach bekannt, dass sie jedoch extravagante Plattenhüllen bevorzugten wusste ich nicht. Ich erlebte eine weitere Überraschung: Hinter dem Tresen stand kein alter Mann, sondern Fred, der Sohn vom Chef. Wir verstanden uns auf den ersten Blick, schliesslich war er nur wenige Jahre älter als ich. Er wusste viel. Er legte zb. Gospel auf. Call and Response im Urzustand und danach Theolonius Monk on Piano.
„Round about Midnight“; „Epistrophy“, der 6/4 Walzer in „Carolina Moon“, aber auch der Chorus, die Quinte, jedes verlor seine Abstraktion, die Musik wurde zum Ozean. In mir keimte der Wunsch das Klavier kennenzulernen, Unterricht zu nehmen. Schnell allerdings wurde mir klar, nie würde ich es lernen - die Vorbilder - so wollte ich spielen - genau wie sie. Wieder teilte sich etwas in meinem Kopf. Hier die reguläre Schule mit der Fünf in Musik, weil ich nicht vorsingen konnte und dort das analytische Ohr, das den Kompositionen Luc Ferrari’s lauschte.
Dem kühlen Mai folgte ein heisser Sommer. Mich plagte die Sorge, wie mein Leben nach der Schule aussehen sollte. Ich ging deshalb zu Fred, meinem Vertrauten in allen Fragen des Lebens. Jedoch, zum Diskutieren schwieriger Fragen blieb keine Zeit. Fred`s Augen leuchteten, wie er mir eine schwarze Plattenhülle entgegenhielt und das Brett aus der Hülle zog. Sacht setzte der Arm auf. Schnell konnte ich nur den Titel lesen: Reverend King.
Leise Stimmen im Gebet: „May there be peace and love and perfection among all creation.... May there be peace and love and perfection among all creation....“, aus einer fernen Welt fluteten, wogten, verebbten Klänge, brachen auf bis in die höchste Extase. Neben dem Tenorsax spielte hier John Coltrane die Bassklarinette, Pharaoh Sanders das Tenorsax und die Flöte, Raschid Ali sass neben Ray Appelton am Schlagzeug und Jimmy Garrison schlug den Bass. Nachdem der Arm vom Plattenteller abhob schwiegen wir lange. Mir stand der Schweiss auf der Stirn. „Es“ atmete mich. Ich spürte, dass Musik mehr als nur Unterhaltung, sondern Religion werden kann. Tage später kaufte ich die Platte, sie wurde meine erste. Die wichtigen Lebensfragen, eine Lösung bahnte sich an. Wochen später fiel meine Entscheidung. Geschichte und Soziologie wollte ich studieren.
Der Herbst färbte die Blätter, die Demonstrationen gegen den Krieg in Vietnam wurden länger. Standen im Frühjahr fünfhundert Leute auf der Strasse wurden es bald tausend, zweitausend, schnell viertausend. Fred hing an einem dieser Sonnabende ein Schild an die Ladentür, dass er aus Familiären Gründen geschlossen habe, bald zählte er sich zur „APO“, der Ausserparlamentarischen Opposition. Er erklärte mir, dass im Parlament nur die Interessen der Konzerne vertreten würden und wirkliche Opposition nur von aussen kommen könnte. Überall lagen bei ihm Flugblätter herum, klebten Plakate gegen den Krieg, gegen die Notstandsgesetze an den Wänden. Für den Jazz hatte er keine Zeit mehr. Es kamen kaum noch Kunden, schliesslich, kurz vor Sylvester starb der Vater, Fred verkaufte den Laden und zog aus unserer Gutbürgerlichen Gegend weg. Ich hatte eine grosse Angst vor den Demos, denn die Polizei fuhr mit Motorrädern in die Menschenmenge und jagte die Leute
auf die Fahrbahn, hinein in den Sonnabendverkehr vor die Stosstangen der Autos. Deshalb blieb ich Zuhause und sah Abends alles im Fernsehen.
Ein Gutes hatte die Bekannschaft mit Fred dann doch noch. Zwischen all den Pamphleten lag ein Zettel besser eine Ankündigung. Im „ÇA IRA“, einem Jungendclub im feinen Wilmersdorf sollte Free Jazz Live gegeben werden. Ich freute mich auf die Gelegenheit endlich einmal selber den Jazz photographieren zu können.
Von den angekündigten Musikern hatte ich noch nie gehört. Peter Brötzmann Tenorsax, Fred van Hove Piano und Han Bennink an den Drums, der Shell und einem Instrument, das mir noch unbekannter war: „Gachi“ was immer das sein sollte. Dem Konzert hatte man den Titel „Balls“gegeben.
Beim „ÇA IRA“ handelte es sich um eine Baracke. Dem ultimativen Treffpunkt aller kritisch eingestellten. Lange Haare, Bärte, Parkas, der Rotwein wurde aus zwei Liter Flaschen getrunken, eine Luft zum Schneiden von den selbst gedrehten Zigaretten. Mitten zwischen den alten Sofas und Sesseln ein Podest. Auf dem stand das Piano, auf dem Piano ruhte das Tenorsax und neben dem Piano umrahmte eine Kollektion von Röhren Töpfen, Spieluhren das Schlagzeug. Rechts seitlich vom Schlagzeug lag ein von feiner Silberarbeit verziertes Horn. Es hätte ein Alphorn sein können, wenn es denn gebogen gewesen wäre. Das Teil hier aber war gerade und sehr lang. Die Künstler liessen das Publikum nicht lange warten. Sinnlose Silben murmelnd stürzte ein grosser kräftiger Mann in blauer Latzhose auf das Bühnenpodest, auf dem Rücken trug er einen Seesack, deren Inhalt er gleich auskippte. Kastagnetten, Tambourins, Schlagzeugsticks, kleine Glocken, grosse Glocken, Kuhglocken - abenteuerlich die Ausrüstung. „Han Bennick“ hörte ich die Leute flüstern. Er setzte sich auf seinen Schemel und malträtierte die Pedale der beiden Fussmaschinen, schüttelte, warf den puterroten Kopf nach hinten, schrie aus Leibeskräften, bearbeitete die Felle mit den Sticks, den Händen, den Unterarmen manchmal gleichzeitig - ein Musiker - ein Vulkan - ein Akrobat? ich wusste es nicht.
Ganz anders Fred van Hove, der Pianist. Setzte mit äusserlich minimalem Krafteinsatz Akzente, überschritt gelegentlich seine Grenzen, griff in den Instrumentenkörper, verschob während des Spiels die Reiter auf den Stahlsaiten, spielte mit Schlegeln auf den Saiten, als sei das Piano eine grosse Zither. Ich drückte fortwährend auf den Auslöser, riss den Filmtransporthebel um, sprang selber auf die Bühne. Seltenes vor allem teures Material - Agfa Record 32 Din oder 1250 ASA.
Dieser Wert stand ganz winzig neben der grossen Din-Zahl gedruckt, beide bedeuteten das gleiche: höchste Empfindlichkeit beziehungsweise der Verzicht aufs Blitzlicht. Als mir der Film ausging war ich bitter enttäuscht, denn jetzt trat der Saxophonist in Aktion. „Brötz“, ging es durch die Zuschauer. In der Tat, ein mächtiger Körper der „Brötz“ Um seine Einsätze, Glissandis und was sonst noch alles zu spielen brauchte er Kraft. Übermächtige Kraft. Seine Sprache war direkt unmittelbar, dennoch sinnlich. Kein Solist im eigentlichen Sinn, allenfalls die höchste Stimme auch im Duett mit Han Bennick. Der griff zeitweise nach dem silbern verzierten Horn. Ein langes tiefes „OOOOOOOHHHHH“ füllte dann den Raum. Bennick schaffte es den Ton in höhere Lagen zu modulieren. Der spitzbärtige van Hove setzte eine Spieluhr auf die Saiten seines Instruments und betägtigte die Pedalen, trat in den Dialog zur Spieluhr. Genau diese Kadenzen, Rhythmen und Pulsationen waren es, die sirrten summten im meinem Kopf wenn ich nach meinem Musikgeschmack gefragt wurde und keine Antwort geben konnte.
Seit diesem Abend sind über dreissig Jahre vergangen. Free Jazz wurde Anfang der siebziger Jahre eine Mode und die Auftritte von Brötzmann & Co zum vielbejubelten Ritual. Mit Stephan Witwer fand die Elektronik Eingang in den Free Jazz, der im Lauf der Zeit viel vom Wilden und Rohen verlor. Die Karavane zog weiter. Electric Jazz, Rockjazz, ein Trend löste den nächsten ab. Auf das Mahavishnu Orchester folgte Weather Report, auf Weather Report die Brecker Brothers. Miles Davis tauchte nach „Get up with it“ und „Agartha“ ende der Siebziger in den Untergrund um anfang der Achtziger leiser und feiner wieder aufzutauchen. Jazz geriet zumindest in Deutschland zum Nischenprodukt.
Im vergangenen Jahr besuchte ich ein Konzert, das von der Free Musik Produktion initiert wurde. In der Akademie der Künste am Hanseatenweg im ehemaligen Westberlin. Im Dachverglasten Ausstellungsraum.
Damals neunzehnhundertachtundsechzig glich dieser Raum einer grünen Wiese:
Decken auf dem Boden, die Zuhörer lagen sassen tranken, verzehrten mitgebrachte Brote, man fand kaum Platz den Fuss hinzusetzen ohne auf einen anderen Fuss zu treten. Auf vier provisorischen Bühnen verteilt bis Morgens um Sechs kamen Gruppen aus der ganzen Welt in die Akademie.
1998 lag dieser Raum in ein sakrales Dunkel gehüllt. Verloren wirkten die wenigen Zuschauer in den Stuhlreihen und gegen 23 Uhr ging alles nach Hause. Und die Musik? es waren leise Katharsen, die dort gelebt wurden. Wenn jemand Jeans trägt, dann bitte neu, ansonsten Leder oder Kashmere. Ich dachte: Soll der Jazz zum gediegen antiseptischen Rausch verkommen? Nein!! Niemals!!

Back to Homepage